Ein Kommentar: Erstausstrahlung in der Livesendung auf Radio Unerhört Marburg vom 3.12.17
Das Skript zum Beitrag findet sich hier:
Also kein Jamaika – was kommt jetzt?
Georg Fülberth hatte natürlich Recht, als er in einem Wochenblatt mit Blick auf Jamaika schulterzuckend meinte, es wachse zusammen, was zusammen gehöre. Seit der Schröder/Fischer-Wende am Ende des letzten Jahrhunderts kennen schließlich alle Parteien in Regierungsverantwortung in Sachen Reichtumsverteilung nur eine Richtung, die von unten nach oben. Dennoch war der Trotzfunk in seinem Kommentar zu den Bundestagswahlen skeptisch, ob eine solche Koalition zustande kommen werde. Dies begründeten wir wie folgt:
Kulturell sind die bürgerlichen Wähler/innen von AfD und Grünen Antipoden. Das politische Denken der AfD tradiert sich vom preußischen Obrigkeitsstaat her bis heute, dass der Grünen von 1968. Die AfD sitzt insbesondere der CSU im Nacken – in Bayern sind nächstes Jahr Landtagswahlen. Bei diesen möchte die CSU natürlich nicht noch einmal eine solche Kanzlerin Merkels Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 angelastete Katastrophe erleben wie bei den Bundestagswahlen. Die CSU musste also befürchten, dass ihr zu viel Nähe zu den Grünen eine Klatsche auch bei den kommenden Landtagswahlen einbringen würde. Dagegen wehrt sie sich mit allen Mitteln. Diese Tage hat ihr Landwirtschaftsminister entgegen Koalitionsabsprachen in den EU-Gremien wohl als Geste an die bayerischen Bauern der weiteren Ausbringung des billigen und mutmaßlich krebserregenden Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat zugestimmt, da mag die sozialdemokratische Umweltministerin ins Kissen heulen wie sie will und das Vorsorgeprinzip, naja, das Vorsorgeprinzip…
Das tonangebende Kapital war Jamaika gegenüber nicht abgeneigt. Allerdings gibt es in der Politik eben auch den Faktor des Selbsterhaltungstriebs der Parteiapparate, von dem die jeweiligen Kader schließlich ihren Lebensunterhalt auskömmlich bestreiten.
Ob allerdings die Jamaika-Sondierungsgespräche an dem Gegensatz von CSU und Grünen in Sachen Flüchtlings-, Klima- und Landwirtschaftspolitik tatsächlich gescheitert wären, werden wir nun dank der FDP nie erfahren. Die vorliegenden Indizien sagen aber: Wohl eher nicht! Denn die Grünen waren in den Sondierungsgesprächen bereit, für Ministerposten so ziemlich alles zu schlucken. Ihr Spitzenkader Cem Özdemir nannte dieses besondere Ausmaß an Opportunismus Patriotismus für Deutschland, die Delegierten des jüngsten grünen Parteitages feierten ihn und das grüne Verhandlungsteam dafür. Bemerkenswert, wie sehr der Wahlerfolg der AfD die politische Rhetorik der deutschen Politik bestimmt. Künftigen Koalitionspartnern der Grünen wird in Erinnerung bleiben, wie billig diese Partei zu haben ist.
Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungsgespräche stehen drei Optionen offen: eine Koalition aus Unionsparteien und SPD, eine Minderheitsregierung der Unionsparteien allein oder mit der FDP oder den Grünen, möglicherweise toleriert von der SPD, oder Neuwahlen.
Letzteres strebte wohl die FDP an, also Christian Lindner, als er die Sondierungsgespräche platzen ließ. Folgende Überlegungen scheinen ihn geleitet zu haben. Die FDP hat den Neoliberalismus keineswegs als Alleinstellungsmerkmal. Diesbezüglich sind alle im Bundestag vertretenen Parteien entweder in ihrer Programmatik und/oder in ihrer Regierungspolitik kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Dass es die FDP zur Verteidigung der bürgerlichen Freiheit, also der Freiheit des Marktes, nicht unbedingt braucht, hat diese Partei bei den Bundestagswahlen 2013 schmerzlich erfahren. Für die FDP glücklicherweise sind aber zwei Trends in den meisten Ländern mit parlamentarischer Demokratie zu beobachten: 1. die Wahlerfolge von Rechtsaußenparteien, 2. die Wahlerfolge junger, urbaner, charismatischer Führungsfiguren wie Kurz oder Macron.
Rechtsaußen fischt Lindner inzwischen so sehr, dass Alexander Gauland schon in Richtung FDP moserte, das Original sei schließlich die AfD. Das mag zwar richtig sein, aber verhuschte Bürger mit Rechtsaußengesinnung mögen tatsächlich in die Versuchung kommen, bei den nächsten Wahlen die als demokratisch geltende FDP zu wählen. Und was nun die Sache mit der charismatischen, jungen, gutaussehenden, erfolgreichen, smarten, urbanen, zukunftszugewandten Führungsfigur angeht, na, die entdeckt der Christian Lindner mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit jeden Morgen in seinem Badezimmerspiegel.
Potentiell könnte diese Chose funktionieren. Von der durch und durch angepassten Nachwuchsintelligenz bis hin zu den um deutsche Artenreinheit besorgten Bürgerinnen und Bürger mag es großes Potenzial geben. Insbesondere für die AfD und die Unionsparteien stellte eine haiderisierte FDP durchaus eine Herausforderung dar, aber mit Blick auf jüngere Mittelschichtwähler/innen durchaus auch für die Grünen. Kurzfristig hat sich aber ein solcher Effekt bislang nicht eingestellt. Wären heute Neuwahlen, würden laut Wahlumfragen ungefähr die gleichen Ergebnisse herauskommen wie am 24. September. Deshalb wirbt Lindner inzwischen mit einer irgendwie konstruktiven FDP oder so.
Eine Haiderisierung der FDP könnte übrigens auch zur Folge haben, dass der völkisch-nationalistische Flügel der AfD programmatisch an Einfluss gewinnt und die AfD mit stärkerer Betonung des „Völkisch-Sozialen“ gegenüber des jetzigen klar neoliberalen Programms Richtung Front National unter Marine Le Pen treibt, um sich dann stärker von der FDP abzugrenzen.
Da eine wie immer ausgestaltete Minderheitsregierung aufgrund der Unlust der meisten politischen Protagonisten eher unwahrscheinlich ist, bliebe statt Neuwahlen noch die Option einer Koalition aus Unionsparteien und SPD. Das diesbezügliche armselige Lavieren der SPD wird niemanden im Lande verwundern, schließlich hatte ihr Ex-Fraktionsvorsitzender Oppermann schon am Wahlabend irgendetwas in die Mikrophone von „wenn das mit Jamaika nicht klappt“ und „staatsmännischer Verantwortung“ gemurmelt. Dennoch ist nicht ausgemacht, dass eine solche Konstellation zustande kommt. Insbesondere der SPD-Apparat wird die warnenden Schicksale seiner Schwesterparteien in Frankreich oder Griechenland vor Augen haben.
Eine Koalition aus Unionsparteien und SPD nannte sich einmal Große Koalition. Inzwischen kommen die drei Parteien zusammen auf gerade noch 53,5 % der Wähler(innen)stimmen. Auch die Unionsparteien, nicht nur die SPD, müssen mit Sorge auf das Erodieren ihre Wählbasis blicken. Insofern könnte eine Große Koalition sogar Sinn für sie machen, indem sie in der kommenden Legislaturperiode eine, und sei es auch nur moderate, Politik betrieben, die im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegt und nicht nur im Interesse der oberen Wenigen, um wieder mehr Wählerinnen und Wähler an sich zu binden. Das aber wird mit Sicherheit nicht geschehen, auch wenn eine Neuauflage der jetzigen Koalition kommen mag. Die führenden Politiker von CDU, CSU und SPD sind viel zu sehr mit den Wirtschaftsmächtigen im Land verbandelt und diese im harten Konkurrenzkampf der globalen Kapitale unfähig und unwillig zu jedem Klassenkompromiss. Und von links gibt es nichts und niemanden, der sie zu einem solchen zwingen könnte.
Allenfalls wird die SPD, geht sie nach ihrem Maulheldentum vom 24. September jetzt doch in Koalitionsverhandlungen, mit Reförmchenforderungen glänzen wollen, um jenes Gesicht zu wahren, das sie schon längst verloren hat.
So gesehen, scheint eines gewiss. Ob heute oder in vier Jahren – die politische Reise in Deutschland geht weiter nach rechts. Zum Schluss sei noch erwähnt, dass eine hier noch nicht genannte Partei auch eine Nutznießerin der tristen politischen Situation in Deutschland sein könnte. Angesichts des bizarren Käfigtheaters der Führungsfiguren der Linkspartei und ihres Mitwirkens an der Formalprivatisierung der Berliner Schulen, die sehr schnell zu einer faktischen werden könnte – um nur die allerletzten Highlights zu nennen – mag es noch mehr Wähler/innen als am 24 September geben, die sich in den nackten Sarkasmus flüchten und der Satirepartei „Die Partei“ ihre Stimme geben, die bei den letzten Wahlen immerhin auf 1 Prozent kam. Wir sind auch reif dafür!
2 Korrekturen vom 8.12.17: Der im Text genannte Thomas Oppermann war nicht Generalsekretär der SPD, sondern von 2013 – 2017 Fraktionsvorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Glyphosat ist ein Unkrautvernichtungsmittel, das im Verdacht steht, krebserregend zu sein.